Keiner kommt als Unternehmer auf die Welt

Lebenswege Ernst Schneiders

Von Hartmut Käse

„Entgegen einer weit verbreiteten Meinung bin ich der Ansicht, dass es den geborenen Unternehmer im eigentlichen Sinne nicht gibt. Vielmehr liegt das Gewicht auf der Arbeit an sich selbst, die jeder Unternehmer auf sich nehmen muss, wenn er seinen spezifischen Aufgaben gerecht werden will. Keiner kommt mit den Eigenschaften auf die Welt, die er als Unternehmer braucht.“

Ernst Schneider

Sein Vater war Landwirt und Gemeinderechner im oberhessischen Heldenbergen, einem Dorf mit damals knapp 1.500 Einwohnern, das heute zur Stadt Nidderau gehört. Hier wurde Ernst Schneider am 6. Oktober 1900 in ein wilhelminisches Deutschland hineingeboren, das sich gerade zur führenden europäischen Wirtschaftsmacht entwickelte – und in ein Jahrhundert, dessen Brüche die Lebenswege des Bauernsohns entscheidend prägen sollten.

Die „höhere Mathematik“ habe er erst bei Siegfried Arndt gelernt (beim späteren Mentor und Geschäftspartner), sagte Schneider einmal in einem Interview. Aber die Bedeutung der Zahlen für Betrieb und Gemeinwesen dürfte ihm bereits am Beispiel seines Vaters klar geworden sein – dem „mit guten kaufmännischen Fähigkeiten ausgestatteten Bauern aus der fruchtbaren Wetterau“, als den ihn Karl Heinrich Herchenröder beschrieb.

Ein Senkrechtstarter

Die letzten Monate vor dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 sahen den frischgebackenen Offenbacher Abiturienten noch als Kanonier (Fußartillerist) in feldgrauer Uniform – aber das Jahr darauf schon als fleißigen Studenten der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre sowie Rechtswissenschaften auf den Bänken der Universität Frankfurt am Main, die zwischen 1918 und 1932 eine große Blütezeit erlebte.

Ernst Schneider schloss 1921 als Diplom-Kaufmann ab und wurde Assistent bei Professor Fritz Schmidt (1882-1950). Dieser legte in seiner „organischen Bilanztheorie“ den besonderen Akzent auf das Unternehmen als Teil der Volkswirtschaft und betonte den engen Zusammenhang von Betriebs- und Volkswirtschaftslehre. Aufmerksam hörte Schneider auch dem Nationalökonomen Adolf Weber (1876-1963) zu, dessen Entwürfe zu den Grundlagen der späteren Sozialen Marktwirtschaft zählen.

Aber kaum hatte er mit seiner Dissertation begonnen, startete Ernst Schneider mit 21 Jahren auch schon in eine steile Karriere, deren nächste Höhepunkte die Teilhaberschaft an einer Holdinggesellschaft als Mittzwanziger und mit Anfang dreißig die Leitung eines Weltmarktführers sein sollten. Für das Examen zum Dr. rer. pol. 1922 musste Schneider als Deutschlandreferent einer schweizerischen Finanzgruppe, der ihn sein Doktorvater empfohlen hatte, um Urlaub bitten.

Von Düsseldorf nach Berlin

Mit dem frühen, durch seinen Professor vermittelten Berufseinstieg bei den Baseler Finanziers waren für Ernst Schneider, der selbst gar keine klaren Berufsvorstellungen gehabt hatte, die Würfel für seine weitere Laufbahn gefallen. Die zunächst von ihm zu betreuenden Investments verteilten sich auf die Stahlbaufirmen Hein, Lehmann & Co. AG (Düsseldorf), die Hilgers AG (Rheinbrohl) sowie die Steffens & Nölle AG (Berlin).

1924 erwarb der vermögende und angesehene Handelsgerichtsrat Dr. Siegfried Arndt diese Beteiligungen und berief den jungen Manager als Direktionsassistenten zu sich nach Berlin. Ernst Schneider zog von seinem bisherigen Dienstsitz Düsseldorf aus gen Osten – bis er einunddreißig Jahre später als Flüchtling an den Rhein zurückkehren sollte.

Mit in die deutsche Hauptstadt, wo gerade der wirtschaftliche und kulturelle Aufschwung der „Goldenen Zwanziger“ begann, nahm Ernst Schneider die Themen seiner Frankfurter Lehrer Fritz Schmidt und Adolf Weber, die er später zu Themen seiner eigenen wirtschaftspolitischen Impulse machte. Mit nahm er auch die erste berufliche Bewährung unter den schwierigen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen der frühen Weimarer Republik – und die Gemeinderechnung seines Vaters, die ab jetzt zur „höheren Mathematik“ ausgebaut wurde.

Lehrjahre in der „Weltfabrik Deutschlands“

„Die Eigenschaft, Menschen und Dinge zu organisieren und zu koordinieren, und zwar so, dass der höchste wirtschaftliche Erfolg erzielt wird, ist weitgehend erlernbar und lehrbar, ebenfalls die Begabung der Menschenbeurteilung und der Menschenführung. Nur teilweise erlernbar sind dagegen die Gaben der Kontrolle und vorausschauenden Planung. Nicht erlernbar sind die Entschlusskraft und das Glückhaben.“

Ernst Schneider

Ernst Schneiders neuer Chef Siegfried Arndt hatte seine Investments unter dem Dach der Kohlensäure-Industrie AG zusammengefasst, „bei der es sich nicht um einen Konzern im üblichen Sinne handelt, sondern um eine gemischte Gruppierung von Vermögenswerten aus den verschiedensten Unternehmungen zum Ausgleich geschäftlicher Risiken“ (Karl Heinrich Herchenröder). Diese Industriegruppe, welche die Branchen Kohle, Stahlbau und Chemie umfasste, bauten Arndt und sein Juniorpartner (ab 1925) zusammen strategisch aus.

Im Berlin der 1920er Jahre, gerade zur drittgrößten Stadt der Welt nach New York und London aufgerückt und für die Dichterin Else Lasker-Schüler die „Weltfabrik Deutschlands“, bildete sich nicht nur die Unternehmerpersönlichkeit Ernst Schneider heraus. Inmitten des Trubels dieser Stadt – „intellektuell explosiver als irgendeine andere Metropole Europas“ (Rüdiger Altmann) – erfuhr er auch jene innige Berührung mit ostasiatischer Keramik, die seine „maladie de porcelaine“ auslöste und ihn zum Liebhaber und Sammler des frühen Meißener Porzellans werden ließ.

Der Zerreißprobe durch die Weltwirtschaftskrise ab 1929 – welche die „Goldenen Zwanziger“ jäh beendete – hielt die Kohlensäure-Industrie AG, für die Ernst Schneider als Teilhaber frühzeitig unternehmerisches Risiko übernommen hatte, erfolgreich stand. Es gelang 1931 sogar der Erwerb der Mehrheitsbeteiligung an der Dresdner Lingner-Werke AG, und von nun an widmete sich Ernst Schneider bevorzugt jener Marke, die bis heute – neben dem ihres Erfinders Karl-August Lingner (1861-1916) – untrennbar mit seinem Namen verbunden ist: „Odol“.

Als Generaldirektor im „Elbflorenz“

Doch der Weltmarktführer bei Mundwassern war unter den Nachfolgern des Firmengründers durch eine gegen dessen Rat betriebene Überdehnung der Produktpalette und die Vernachlässigung der Werbung ins Wanken geraten. Ernst Schneider begann seine neue Tätigkeit in der „Odol“-Fabrik an der Zwickauer Straße in Dresden als Sanierer.

„Markenartikel-Unternehmen verkaufen im tieferen Sinne Konsumideen und Konsumgewohnheiten, die sie dem Verbraucher suggerieren müssen. Markenartikel erfordern deshalb ständig die Ansprache des breiten Publikums und sind alles andere als die Garantie einer Rente. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass ein guter Markenartikel wie beispielsweise »Odol« sich von alleine verkauft. Jeder Markenartikel muss sozusagen ständig neu geschaffen werden. Das gilt sowohl hinsichtlich seiner Zusammensetzung, seiner Ausstattung als auch insbesondere für die Art und Weise, wie er an die Konsumenten herangebracht wird.“

Ernst Schneider

Nachdem er sich von unrentablen Erzeugnissen getrennt und die verbliebenen neu strukturiert hatte, konzentrierte der neue Geschäftsführer ganz im Sinne des Erfinders – der zehn bis vierzehn Prozent des Gesamtumsatzes für Werbung ausgegeben hatte – alle Mittel auf „Odol“.

Ernst Schneider griff dabei einerseits auf bewährte Strategien Lingners, der die Seitenhalsflasche mit dem in allen Sprachen gleich klingenden Namen zum ersten globalen „brand“ gemacht hatte, zurück und ließ sich neue einfallen: mit einem Zeppelin ging die „Odol“-Werbung in die Luft, mit der größten und höchsten deutschen Lichtreklame auf das „Europa-Haus“ in Berlin, mit Büchern in die Kinderzimmer und Lehrfilmen in die Schulen. Der „Odol“-Schriftzug auf Straßenbahnen und Omnibussen war im Straßenbild der Städte nicht zu übersehen.

Der Erfolg blieb nicht aus: Bis zum Kriegsbeginn 1939 verdoppelte sich der Umsatz, der Gewinn verdreifachte sich. Nur einer konnte dieses Ergebnis nicht mitfeiern: Siegfried Arndt, der 1933 zunächst in die Schweiz, dann in die USA emigriert war.

Immun gegen Rechtstendenzen und Nationalsozialismus

Ernst Schneider war ein überzeugter Anhänger der liberalen Demokratie und sympathisierte auch in den Verwerfungen der späten Weimarer Republik niemals mit den Rechtstendenzen, die Hitler den Weg in die Reichskanzlei bahnten. Für seinen jüdischen Geschäftspartner bedeutete die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten das Aus in Deutschland. Schneider geriet selbst unter Verdacht und wurde für einige Tage inhaftiert, konnte aber dann die Geschäfte weiterführen, die Beteiligungen Arndts stillschweigend treuhänderisch verwalten und nach dem Krieg zurückerstatten.

„Was ihm nach dem Untergang der Weimarer Republik blieb, war die Konzentration auf seine unternehmerische Aufgabe – im Schatten der den Krieg ansteuernden Diktatur und belastet mit der Loyalität für seinen Partner […] Angesichts dieser Vergangenheit war es, von heute aus gesehen, fast selbstverständlich, dass Schneider sich nicht nur als Unternehmer für die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards engagierte, sondern dass dieses Engagement den Eintritt in das öffentliche Leben der neuen deutschen Demokratie bedeutete.“

Rüdiger Altmann 1975 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“

Dem kommenden Neubeginn ging aber zunächst die Zerstörung voraus. Die Bombenangriffe auf Dresden im Februar 1945 zertrümmerten die Lingner-Werke, den einstigen „Musterbetrieb deutscher Wirtschaft“ von 1931; und bald darauf brannten sowjetische Eroberer seinen Wohnsitz in der Oberlausitz, Schloss Moholz, nieder. Ernst Schneider befand sich auf der Flucht.

Wiederaufbau …

Auch Düsseldorf, der „Schreibtisch des Ruhrgebiets“, wo sich bis Jahresende 1945 eine Reihe Dresdner Mitarbeiter um ihren Chef versammelten, lag zur Hälfte in Trümmern. Auch hier im Westen war der Neuanfang zuerst einmal ein „Sprung ins Dunkle“ (Ernst Schneider), aber die britische Militärregierung ließ ihre Absichten bald erkennen. Am 23. August 1946 wurde das Land Nordrhein-Westfalen mit Düsseldorf als Hauptstadt gegründet.

Nach vier Jahren, in denen Ernst Schneider und seine Leute sich aufgrund einer fehlenden Produktionsgenehmigung für Kosmetika mit pharmazeutischen Erzeugnissen über Wasser halten mussten, erfolgte 1950 der Neustart für die Marke „Odol“ – und wurde sofort zum Erfolg. 1958 konnte die moderne Fabrikanlage in Düsseldorf-Holthausen in Betrieb genommen werden. Ernst Schneider leitete sein Unternehmen jetzt aus dem ebenfalls neu errichteten „Odol“-Haus in der Innenstadt – und prägte von dort die Werbegeschichte der 1950er und 1960er Jahre mit. „Er war als einer der ersten in der Rundfunkwerbung tätig, und er nutzte auch sogleich das neue Medium Werbefernsehen, als es dem Markt zur Verfügung stand.“ (Hans G. Güldenberg)

… und wirtschaftspolitisches Mandat

„Den Unternehmern ist, insbesondere mit Blick auf die Hitler-Zeit, vorgeworfen worden, dass sie die Politik »gemacht« hätten. Richtig ist das Gegenteil: Die Exzesse der Hitler-Zeit waren nur möglich, weil die Unternehmer sich zu wenig um Politik gekümmert haben. Wer an seine Berufung als Unternehmer glaubt, muss auch die Bürde auf sich nehmen, dafür zu sorgen, dass in der Politik keine Dinge zum Zuge kommen, die das Unternehmerische aushöhlen und zu einem Schemen machen.“

Ernst Schneider

Wiederaufbau und Führung seiner Industriegruppe, die neben „Odol“ die früheren und neue Beteiligungen umfasste und für die er seit dem Ausscheiden Siegfried Arndts 1955 allein verantwortlich war, hinderten Ernst Schneider nicht daran, sich nun auch wirtschaftspolitisch einzubringen. Als erstes übernahm er 1949 die Präsidentschaft der Industrie- und Handelskammer Düsseldorf (bis 1968), ab 1964 auch des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT; bis 1969). In diesen Funktionen wurde Schneider zum geschätzten, wenn auch oft unbequemen Ratgeber der Bundesregierungen von Adenauer bis Kiesinger.

„Die Stimme dieses scharfsinnigen, umfassend gebildeten, kunstliebenden, mutigen, unpathetischen Mannes, der Wichtiges leise zu sagen pflegt, war unüberhörbar und hat sowohl Regierungen und Parteien wie Gewerkschaften und Unternehmer immer wieder zum Nachdenken gezwungen.“

Wilhelm Throm 1970 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“

Ein führender Industrieller tritt ab

Es begann 1966, als er die Lingner-Werke und „Odol“ an die Preussag AG verkaufte. Ab Mitte sechzig begann Ernst Schneider, sich nach und nach seiner unternehmerischen und öffentlichen Verpflichtungen zu entledigen. „Er wollte nicht warten, bis ihm das Alter die Zügel aus der Hand nahm“, meinte Rüdiger Altmann.

Von 1927 bis 1938 war Ernst Schneider mit Käte von Schab (geb. Brehm) verheiratet. 1968 starb sein einziger Sohn Klaus-Ernst (geb. 1928), der in Namibia lebte, bei einem Unfall. Im Dezember diesen Jahres schenkte Ernst Schneider seine Sammlung Meißener Porzellans dem Freistaat Bayern, welcher ihm im Schleißheimer Schloss „Lustheim“, der neuen Heimat dieser Sammlung, ein lebenslanges Wohnrecht einräumte. 1971 zog Schneider dort ein.

Der Lebensweg Ernst Schneiders, der es vom Bauernsohn aus der Wetterau bis zu einem der führenden Industriellen Nachkriegsdeutschlands und einer seiner bekanntesten Persönlichkeiten gebracht hatte, endete am 22. September 1977 in München. Sein Andenken ist bei allen, die ihn noch kennen gelernt haben, und weit darüber hinaus lebendig.

„Es gibt keine unternehmerische Persönlichkeit der Generation von Ernst Schneider, der man gleichermaßen in der Wirtschafts- und in der Kulturpolitik gleichgewichtige Fußstapfen nachweisen kann.“

Otto Wolff von Amerongen
Hartmut Käse arbeitet seit 2020 beim Ernst-Schneider-Preis im Bereich Internet mit.