Zwischen Fabrik und Schloss
Ernst Schneider und die Kunst
Von Hartmut Käse
„Es ist ungut, nur und ständig im Sinne der Nützlichkeit zu denken, denn das führt schließlich zur Einseitigkeit und Sterilität. Es gehört eigentlich zur geistigen Gesundheit, als Gegengewicht die Kultur in sein persönliches Wesen mit einzubeziehen als eine andere und nicht unwesentliche Seite, die den Charakter ausmacht und formt.“
Ernst Schneider
Die Trümmer des Zusammenbruchs rauchten noch, als Ernst Schneider bereits zielstrebig für den Neuaufbau zu arbeiten begonnen hatte. Für den Neuaufbau nicht nur seines eigenen Unternehmens, sondern auch der neuen Gesellschaftsordnung in Westdeutschland (freiheitliche Demokratie, soziale Marktwirtschaft) – einschließlich ihres kulturellen Lebens.
Anfang 1945 war es Schneider angesichts der herannahenden Front klar geworden, dass des Bleibens auf seinem Rittergut Moholz (bei Niesky in der Oberlausitz) nicht länger war. Er hatte mit Enteignung, ja sogar mit Zerstörung zu rechnen – und es findet sich denn von Schloss Moholz heute auch keine Spur mehr.
Der erste Transport seiner Kunstschätze nach dem Westen ging dann zwar – wie seine Fabrik, die Lingner-Werke – im Dresdner Bombenhagel unter. Aber der zweite Transport kam durch und bildete an Ernst Schneiders neuer Heimat Düsseldorf den Grundstock zu einer Sammlung, deren Kollektion früher Meißener Porzellane – nach den Beständen in Dresden selbst – als weltweit einzigartig angesehen wird.
Faszination der letzten Blüte
Das kriegszerstörte Rokoko-Schloss „Jägerhof“ am Rande des Hofgartens, nahe der Düsseldorfer Innenstadt, war – unter seiner Mitwirkung – kaum wiederhergestellt, als Ernst Schneider das Mansardgeschoss auch schon mit Porzellan, Silber und Möbeln des 18. Jahrhunderts einrichtete. Der Kunst dieses Säkulums galt Schneiders besondere Vorliebe, was er einmal unter Bezugnahme auf den Diplomaten und Sammler Alfred Horstmann (1879-1947) folgendermaßen begründet hat:
„In meinen Gesprächen mit ihm […] ist mir die vom Lebensstil des 18. Jahrhunderts ausgehende Faszination ahnungsvoll klargeworden. Ahnungsvoll deshalb, weil ohne das Vorgefühl für die kommende Wende, die 1789 offenbar wurde, jene dreißig oder vierzig Jahre […] nicht verständlich sind, in denen alle Kraft und Schönheit einer Epoche, im Angesicht ihres Untergangs, noch einmal in einer letzten Anstrengung in der sublimen Kunst des Porzellans sich verausgabte. Meißen hat hier, wie ich meine, allen Glanz und alle Herrlichkeit eingefangen, aber in unnachahmlicher Weise vereint mit dem Duft und der Schönheit des Verbleichens vor dem Ende.“
Ernst Schneider
Nicht privat, sondern für alle zugänglich
Vom November 1955 an dienten die mit Schneiders Leihgaben ausgestatteten Räume im „Jägerhof“ nicht nur als stilvolle Kulisse für städtische und staatliche Empfänge, sondern standen jedermann offen. „Ernst Schneider hat seine Sammlungen nicht als Privateigentum betrachtet, sondern wollte sie allen zugänglich machen“, fasste der Düsseldorfer IHK-Präsident Hermann Franzen zum 100. Geburtstag Schneiders dessen Einstellung zusammen.
Während die „Odol“-Belegschaft 1958 die neu errichtete, luftige Fabrikanlage in Düsseldorf-Holthausen bezog, schmückte ihr Chef derweil das Treppenhaus, Sitzungsräume und sein Büro im ebenfalls neuerbauten Verwaltungsgebäude der Firma, dem „Odol-Haus“ in der Berliner Allee, mit Malerei und Graphik der Moderne. Von Toulouse-Lautrec bis Picasso war vieles vertreten, Surrealisten, Kubisten, deutsche Expressionisten. „Dr. Schneider ist davon überzeugt, dass der Umgang mit Kunstwerken sich auch günstig auf die Atmosphäre im Betrieb auswirken muss“, berichtete damals das „Handelsblatt“.
Aufgeschlossenheit für die Moderne
Derselbe Mann, der sich geistig dem 18. Jahrhundert nahe fühlte, stand auch der zeitgenössischen Kunst aufgeschlossen gegenüber und sammelte sie schon seit den Dreißiger Jahren. Hatte ihn dabei auch die Prägung durch sein Unternehmen mit inspiriert? Unwillkürlich denkt man an so illustre Namen wie Franz von Stuck, Arnold Böcklin oder Willi Baumeister, die Werbung für „Odol“ gestaltet hatten. Andere Künstler wiederum zitierten diese Werbung oder das Produkt in ihren Werken, von Karl Schmidt-Rottluff bis hin zu Stuart Davis.
Die Werbung des „Odol“-Erfinders und Firmengründers Karl-August Lingner ist geradezu legendär – er war ein Pionier auf diesem Gebiet –, und Ernst Schneider nahm diese Tradition kongenial wieder auf, als er für die Lingner-Werke verantwortlich wurde (1931). Die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Industrie- und Massengesellschaft entwickelnde Werbung hing eng mit der Entstehung der modernen Malerei und Graphik zusammen; sie befruchteten sich gegenseitig.
Zur „Odol“-Werbestrategie gehörte es, einerseits renommierte, aber häufig auch junge (und deshalb oft noch unbekannte) Künstler zu beauftragen. Die Förderung des Nachwuchses, nicht nur auf künstlerischem Gebiet, könnte man geradezu als einen Wesenszug Ernst Schneiders – und seine „Herzensangelegenheit“, wie es Hermann Franzen formuliert hat – bezeichnen.
Die Geburt eines Sammlers
Dabei hatte alles so bescheiden angefangen. „Als ich in Heldenbergen geboren wurde, hat es mir niemand in der Wiege gesungen, dass ich ein so vollendetes Leben führen werde“, bekannte Ernst Schneider, als ihm seine Heimatstadt Nidderau 1975 die Ehrenbürgerschaft verlieh.
Im Berlin der „Goldenen Zwanziger“ hatte der junge Manager seine Liebe zur Kunst und seine Sammelleidenschaft entdeckt, wie er sich fünfzig Jahre später in seiner „Schleißheimer Rede“ (1971) erinnert. „Gerne und mit Vergnügen denke ich an die Samstagnachmittage in meiner Frühzeit als Sammler zurück, an denen ich regelmäßig durch die Berliner Kellergeschäfte […] streifte, um nach zwei oder drei Verhandlungen und Prüfung meiner knappen Kasse einen Teller für zwanzig Mark zu erstehen. Entschloss ich mich zu einem größeren Erwerb […], so kam ich mir mitunter vor wie ein Bankrotteur.“
Es war kurz nach dem Ersten Weltkrieg die Begegnung mit der Keramik Ostasiens gewesen, die in Ernst Schneider den Funken entzündet hatte; eine Begegnung, „als ob ich mich einer aus einem früheren Leben wohlbekannten Welt wieder erinnerte.“ Als er dann noch den Einfluss des ostasiatischen auf den frühen Meißener Dekor erkannt hatte, legte er sein Hauptsammelgebiet bereits früh fest. „Ich wurde mehr und mehr von der »maladie de porcellaine« erfasst, die mich dann zeitlebens nicht mehr verlassen hat […]“.
Freundschaften und vielfältiges Engagement
Mit seiner Sammlung war – schon in der Zeit vor 1945 – auch der Kreis von Sammlern, Museumsleuten, Kunsthändlern und Wissenschaftlern, mit denen Ernst Schneider im gleichen Interesse freundschaftlich verbunden war, stetig gewachsen.
Aus diesen Beziehungen heraus bildete sich Ende 1951 die „Gesellschaft für Keramikfreunde“, ein bis heute lebendiges Netzwerk, das die deutschen Keramikmuseen bei der Erhaltung und Ergänzung der Bestände unterstützt, Forschungsprojekte fördert und Publikationen (darunter die Zeitschrift „Keramos“) herausgibt. Im gleichen Geist initiierte Schneider 1954 auch die Gründung der „Ceramica-Stiftung Basel“.
Die „ maladie de porcellaine“ hinderte Ernst Schneider aber nicht daran, sein kulturelles Engagement breit zu streuen, wie es seiner Persönlichkeit entsprach und sich ja auch in seiner Konzernführung zeigte (Diversifizierung). Lang liest sich die Liste der Institutionen, in deren Leitungsgremien er Sitz und Stimme hatte, vom neuen Schauspielhaus Düsseldorf über das Kölner Wallraf-Richártz-Museum bis hin zum Folkwang-Museum Essen und der heutigen Kunstsammlung NRW.
Für ein zeitgemäßes Design
Ernst Schneiders Engagement richtete sich letzten Endes stets auf die Erfordernisse der Gegenwart (auch unter dem Bildungsaspekt), war praktisch orientiert und dem gesellschaftlichen Ganzen verpflichtet. Daher verwundert es nicht, dass er schließlich – zielbewusst, wie es seine Art war – auch über den Tellerrand seines eigenen Unternehmens hinaus Designfragen in den Blick nahm.
Die exportabhängige deutsche Wirtschaft, die im internationalen Designwettbewerb in den 1960-er Jahren einige schwache Auftritte hatte, konnte Ernst Schneiders künstlerische und organisatorische Kompetenz nur zu gut gebrauchen. Dass er mit „Odol“ für ein Produkt verantwortlich war, das sich auch über sein Marken-Design verkaufte und schon früh weltweit zur Design-Ikone geworden war („Odol“-Fläschchen mit dem Knickhals), war dabei sicherlich von Nutzen.
Über „Formgebung als Ausdruck der Gesinnung“ sprach er bei der Hannover-Messe 1964, nachdem er bereits im Jahr zuvor Präsident (bis 1977) der Stiftung „Rat für Formgebung“ geworden war, dem weltweit beachteten „German Design Council“. Federführend betätigte sich Schneider auch im „Gestaltkreis“ des Bundesverbands der Deutschen Industrie, aus dem heraus 1968 das renommierte „Internationale Design Zentrum Berlin“ (IDZ) entstand, das er ebenfalls bis 1977 leitete.
„Neben diesen drei wichtigen Stellungen war Schneider […] bei vielen Initiativen, beispielsweise zu Fragen der Designer-Ausbildung, beteiligt. Besonders half er mit seinen vorzüglichen Verbindungen in die Bundespolitik, dass Probleme der Gestalter in Bonn Ernst genommen wurden“, resümiert der Historiker Yves Vincent Grossmann 2018 Ernst Schneiders Bedeutung für die deutsche Designgeschichte.
Porzellanschloss „Lustheim“
„Es ist nur natürlich, dass – als ich den Siebzigern näher rückte – mich der Gedanke nachdrücklich beschäftigte, wo diese Sammlung ihren endgültigen Platz finden sollte“, blickte Ernst Schneider später – als sich sein Traum vom „Porzellanschloss“ erfüllt hatte; wenn auch nicht in Düsseldorf, wo er es gerne gesehen hätte – auf nicht ganz leichte Entscheidungen zurück
Der „Jägerhof“ war Mitte der Sechziger Jahre für seine auf weit mehr als zweitausend Stücke angewachsene Meißener Porzellankollektion zu klein geworden. Dem Wunsch, mit seinem Porzellan nach Schloss Benrath zu ziehen, konnte oder wollte von den Düsseldorfer Stadtoberen nicht entsprochen werden. (Angeblich scheiterte das Vorhaben am Einbau eines Aufzugs.) Daher richtete Ernst Schneider seine Blicke nach München, wo er bereits 1966 bei der Ausstellung „Meißen 1710 bis 1810“ mit etlichen Leihgaben vertreten gewesen war und Kontakte geknüpft hatte.
Ein kleinerer Teil der Sammlung, für den er der Stadt ein (1988 realisiertes) Vorkaufsrecht testamentarisch zusicherte, verblieb schließlich in Düsseldorf und ist heute als Bestandteil des „Hetjens – Deutsches Keramikmuseum“ weiterhin im Schloss „Jägerhof“ zu sehen. Der überwiegende Teil jedoch wanderte als Schenkung an den Freistaat Bayern nach München.
Am 29. Juni 1971 wurde das Schleißheimer Jagd- und Gartenschlösschen „Lustheim“ als erstes Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums feierlich eröffnet. Hier fand nun nicht nur sein geliebtes frühes Meißener Porzellan ausreichend Platz und dauerhafte Bleibe in den vom italienischen Hochbarock geprägten Räumen; sondern auch Ernst Schneider selbst, für den das Obergeschoss zur Wohnung hergerichtet worden war, das Refugium seiner letzten Jahre.
„Im Schloss Lustheim haben Sie, ohne Worte, Ihre Biographie geschrieben“, heißt es in einem Brief (1972) von Carl Jacob Burckhardt an Ernst Schneider.
Ein bleibendes Vermächtnis
„Das Geldverdienen als solches war eigentlich immer für mich eine Art Abfallprodukt, denn viel interessanter fand ich die Problemstellungen, die mich reizten und für die ich eine Lösung finden wollte. Der finanzielle Erfolg war dafür eine Bestätigung, die ich zur Kenntnis nahm, um mich sofort neuen Aufgaben zuzuwenden. Die Möglichkeit, außer meiner persönlichen Anteilnahme für Kunst und Wissenschaft auch finanzielle Mittel aufwenden zu können, habe ich stets als einen großen Vorzug und eine Rechtfertigung meiner wirtschaftlichen Tätigkeit empfunden.“
Ernst Schneider
Mitten im „Wirtschaftswunder“ porträtierte Karl Heinrich Herchenröder für das „Handelsblatt“ die westdeutschen Industriemagnaten und brachte diese Porträts 1958 unter dem Titel „Neue Männer an der Ruhr“ als Buch heraus. Ernst Schneider hebt sich von seinen dort versammelten Kollegen in mancherlei Hinsicht charakteristisch ab. „Ernst Schneider strahlt eine wohltuende Selbstsicherheit aus, ganz ohne die Gebärde des »großen Wirtschaftsführers«, die er nicht nötig hat“, liest man dort etwa.
Dieser in der Wahrnehmung seiner Zeitgenossen so bescheidene Mann schloss denn auch seine Rede bei der Eröffnung von „Lustheim“ nicht mit eigenen Worten, sondern mit denen eines von ihm verehrten Sammlers und Kunstpädagogen:
„Kunstwerke sammeln dient nicht nur der Befriedigung der Eitelkeit oder eines mehr oder weniger in jeder Seele vorhandenen Triebes zum Besitz, nicht nur der Ausspannung und Erholung von allerlei Berufsarbeit, der Verwendung überschüssiger, nicht beanspruchter Lebensenergie – die Sammeltätigkeit gehört zu der Grundlage der höchsten Form der Bildung, der Bildung im Sinne Goethes.
Sie ist die notwendige Ergänzung unserer wesentlich auf Wort und Wissen angelegten Bildung, denn sie führt zu den Dingen und in die Dinge hinein, sie weckt und entwickelt die Kräfte des Geistes und des Herzens, die sonst ruhen, sie gewährt Zugang zu dem geheimnisvollen Wesen der Wissenschaft und der Kunst und erfüllt mit einem erwärmenden, alles durchdringenden Glücksgefühl.“
Alfred Lichtwark
Hartmut Käse arbeitet seit 2020 beim Ernst-Schneider-Preis im Bereich Internet mit.